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What I wrote today, does it matter?

Melanie Bono

Ein simples weißes Blatt Papier, herausgetrennt aus einem Notizbuch, mit dünn-grauer Lineatur. Zu lesen darauf einzelne Worte, in kleinen Gruppen über die Seite verteilt: »Today nothing.« Das nächste Foto, die gleiche Seite, darauf zu lesen: »Today does matter« und weiter, nächstes Foto: »Today I do n’t matter« und, noch weiter: »Nothing Doesn't matter«. Und noch weitere Fotografien, weitere Variationen auf der immer gleich erscheinenden Notizbuchseite. Die gleichen Wörter erscheinen an derselben Stelle auf dem Blatt, in der Serie entsteht der Eindruck konstanter Existenz der Worte, nur manchmal sind sie sichtbar und manchmal eben nicht. Unten auf der Seite, auch immer an der gleichen Stelle, eine Datumsangabe: »January 9th«.


Das Datum gibt uns den Hinweis: Es handelt sich um ein Tagebuch, es sind innere Sätze, aus Reflexionen gewonnen und auch dafür notiert. Aber die Darstellung steht in Kontrast zu der herkömmlichen Vorstellung eines Tagebuches. Dies sind keine Notizbuchseiten, deren handgeschriebenen Inhalt wir einfach flach aufgeschlagen auf einer Oberfläche betrachten; diese Seiten verfügen über eine eigenständige Erhabenheit – sie präsentieren sich in klaren schwarzen Großdruckbuchstaben, thronend, aus eigener Kraft aufrecht stehend, leuchtend weiß gegen den harten schwarzen Hintergrund abgesetzt.

Im Titel gibt uns Natalie Czech einen Namen zu der von uns imaginierten Tagebuch-Person. Sie bezieht sich auf den russischen Schriftsteller und Lyriker Danill Kharms (1905-1942). Sein Werk, das er unter fortwährenden Repressalien des Stalinregimes und fast vollkommen ohne öffentliche Wahrnehmung beständig fortgesetzt hatte, steht ebenso wie die Notizbuchseiten eigenständig und in starkem Kontrast zur umgebenden Literatur für sich. Er fand eine völlig autonome Ausdrucksform für seine Gedanken, in dadaistisch- humoristisch anmutender Lyrik, deren Vieldeutigkeit ein Grund war, dass sie der Zensur zum Opfer fiel.

Den Originaleintrag vom 9. Januar, »Today I wrote nothing. Doesn’t matter« aus der englischen Übersetzung1 des The Blue Notebook zerlegt Natalie Czech in den Fotografien ihrer neusten Serie wie eine streng analytische Wissenschaftlerin, als ob dem einen, tiefer liegenden Sinn auf diese Weise auf die Spur zu kommen sei. Immer wieder stellt sie die Wörter um, lässt etwas weg und forscht sorgfältig den Bedeutungsverschiebungen nach, die dadurch eintreten. Jeder Satz kann eine eigene Fotografie beanspruchen, damit er Raum hat, seinen ganz spezifischen Sinn zu entfalten. Und doch ist Natalie Czechs Unterfangen in ebenso absurd-humoristischer Weise zum Scheitern verurteilt wie Danill Kharms Lyrik, denn mit jeder neuen Kombination, mit jedem weggelassen Wort entsteht statt analytischer Eindeutigkeit das genaue Gegenteil. Wenn dann, als Quasi-Endpunkt der Möglichkeiten auf dem Blatt nur noch ein einzelnes, isoliertes »I«, also »Ich« zu sehen ist, dann wird klar, dass ganz im Gegensatz zum reduzierten Sprachsymbol eine Explosion der möglichen Bedeutungen, Assoziationen und Vorstellungen stattfindet. Statt der erwünschten Klarheit entstehen unendliche mögliche Interpretationen dessen, was Danill Kharms selbst mit seinem Eintrag gemeint haben mag, und diese Erkenntnis potenziert sich noch mit der Vielzahl möglicher persönlicher Bedeutungen, die jeder Satz für den einzelnen Betrachter mit seiner jeweils eigenen Biografie und Erfahrung annehmen kann.

Wenn man als Betrachter von Foto zu Foto geht und die einzelnen Sätze auf sich wirken lässt, dann kann noch eine weitere, eine verbindende Ebene hinter den einzelnen Bildern entstehen. Der innere Monolog der aneinandergereihten Sätze verdichtet sich dann zum Bild einer Person, die auf ganz nach innen gewandte und persönliche Weise um jeden Satz ringt, die auf der Suche nach dem präzisen Ausdruck ist, nach der passenden, stimmigen und einzig angemessenen Form für das, was sie mitzuteilen wünscht. Es ist der leise Kampf um Eindeutigkeit, der mit jeder Entscheidung unzählige andere Möglichkeiten ausschließt unter der Unsicherheit, ob es nicht doch noch eine bessere Lösung gibt. Ein Prozess an dessen Ende die ernüchternde Feststellung stehen muss, dass jeder selbst geschaffene Satz dennoch eine eigene Autonomie beansprucht, weil es in der Sprache wie im visuellen Ausdruck keine eindeutige Botschaft geben kann. Die Werkserie Today I wrote nothing (D. Kharms) lenkt die Vorstellung des Betrachters in diesem Sinne auch über das eigentlich Abgebildete hinaus auf die Bedingungen der eigenen Entstehung, auf den Kontext der Situation desjenigen, der die Fotos überhaupt erst in die Welt, zur Sichtbarkeit gebracht hat und auf den Prozess, der dazu notwendig war.

Es ist genau dieser Punkt, der dem künstlerischen Interesse[von Natalie Czech zugrunde liegt: Es geht ihr nicht in erster Linie darum, etwas über die Fotografie in Szene zu setzen. Alles, was sich auf Fotos festhalten lässt, was direkt aus der sichtbaren Welt ableitbar ist, empfindet sie nach eigener Aussage als »Fragmente der Wirklichkeit«. Diese Fragmente sind das Ausgangsmaterial in den Arbeiten von Natalie Czech, die sie in collageartigen Zusammenstellungen als solche thematisiert oder deren Prozesshaftigkeit sie in diesen Ausschnitten festhält. Dabei macht sie sich die speziellen Eigenschaften von Fotografien zu Eigen. Zum einen sind sie so angelegt, dass sie einen Ausschnitt der sichtbaren Welt zeigt, der als aus seinem Kontext entnommen erscheinen muss, andererseits aber als quasi semiotisches Zeichen Informationen über das Sichtbare hinaus trägt, indem er als Repräsentant für die bestimmte Kulturarten, Weltanschauungen und Vorstellungen stehen kann.

Diese Information über das Sichtbare hinaus, das feine Wechselspiel im Verhältnis von Visualität und Vorstellungen spürt Natalie Czech immer wieder auf. Sie ist auf der Suche nach dem, was an Information als nichtmaterieller, nichtsichtbarer Teil in der Fotografie mit dargestellt wird, oder wie sie selbst sagt, auf der Suche »nach den Leerstellen und Auslassungen in der Fotografie«. Über das – nach wie vor – mit Authentizität und Dokumentation verbundene Medium gelingt es Natalie Czech der Entstehung neuer Sichtbarkeit durch Abwesenheit« zu einer möglichen Wahrnehmbarkeit zu verhelfen. Diese Herangehensweise lässt sich auch in der Werkreihe der Non Visible Collages deutlich nachvollziehen. Diese Serie, 2007 entstanden, und inhaltlich auch als eine gedankliche Vorarbeit zu Today I wrote nothing zu betrachten, arbeitet explizit mit der Darstellung der Oberfläche von Dingen, und redet dabei eigentlich von dem, was hinter, unter dieser Oberfläche liegt.

Auf der Suche nach dem Nicht-Sichtbaren fing Natalie Czech 2007 an, Tagebücher aus den 1930er Jahren bei Auktionen und in Antiquariaten zu erwerben und weitete ihre Recherchen 2009 auf Tagebucharchive in Marbach und Emmendingen aus. Über diese Zeit vertiefte sie sich in unzählige persönliche Aufzeichnungen von anonymen Menschen in der Erwartung, so einen Einblick in Gedanken und Empfindungen zu bekommen, die nicht nach außen getragen werden, nach dem, was die Menschen sonst eher unausgesprochen bewegte. Am Ende der ausgedehnten Lektüre stand eine völlig unerwartete Erkenntnis: In der Nahsicht auf das, was eine Person im eigenen Tagebuch von sich preis gibt, ließ sich kein vollständiges Bild zusammensetzen. Wie auch immer der individuelle Schwerpunkt der Einträge lag, ob in der emotional ausführlichen Beschreibung von Konflikten oder dem Tagesgeschehen, durch das Fehlen von weiteren, äußeren Informationen war es unmöglich, das Gelesene in den richtigen Bezugsrahmen zu setzen und den Kontext der Personen zu begreifen. Das Nachdenken über das, was nicht aufgeschrieben wurde, überlagerte bei zunehmender Anzahl der gelesenen Tagebücher das Nachdenken über das tatsächlich Geschriebene.

Aus dieser Erkenntnis kehrte Natalie Czech wieder an die Oberfläche zurück. Die abgenutzten Ecken, die Farbe, das Format, all die Spuren der Benutzung, das macht die Tagebücher zu einzigartigen Exemplaren, zu den eigentlichen Individuen. Das Nicht-Sichtbare war in diesem Fall die Persönlichkeit des Autors, der sich darin verewigt hatte. Es ist diese Erfahrung, die Natalie Czech zu den Non Visible Collages verarbeitet hat. Sie kombiniert die Rechtecke und Quadrate der geschlossenen Tagebücher nach formalistischen Prinzipien auf der Fläche und kombiniert sie mit leeren Bilderrahmen. Die Porträts der Tagebuchschreiber, die so entstanden, bleiben im Ergebnis ebenso abstrakt wie die Persönlichkeiten, die man aus ihnen ablesen kann.